Mülheim, 21.02.2022
17 Jahre Stillstand
Viele hörbehinderte Kinder besuchen die Förderschulen für Hören und Kommunikation in Nordrhein-Westfalen.
Die hörenden und gehörlosen Eltern dieser Kinder haben sich bewusst für diese Schulform entschieden, um für ihre Kinder die bestmögliche Förderung und Bildung zu erzielen.
Die deutsche Gebärdensprache (DGS) ist ein elementarer Bestandteil dieser Förderung, um die Wissensvermittlung, die Kommunikation der Schüler*innen untereinander und die Kommunikation zwischen Schüler*innen und Lehrer*innen sicherzustellen. Das Bewusstsein über die Gebärdensprache stärkt außerdem die Schüler*innen, wenn sie sich im Unterrichtsfach DGS mit dieser Sprache auseinandersetzen und reflektieren können.
Genau an dieser Stelle kämpft der Landeselternverband für die Rechte unserer Kinder und Jugendlicher, denn die deutsche Gebärdensprache ist zurzeit kein Baustein in der Förderung unserer Kinder an den Förderschulen für Hören und Kommunikation.
Seit 17 Jahren ist in der Verordnung über die sonderpädagogische Förderung, den Hausunterricht und die Schule für Kranke im Artikel 23.2 vom Ministerium für Schule und Bildung (Ausbildungsverordnung sonderpädagogische Förderung – AO-SF) festgelegt, dass die deutsche Lautsprache und die deutsche Gebärdensprache gleichberechtigte Kommunikationsformen an Förderschulen für Hören und Kommunikation sein sollen. Außerdem sieht der Artikel 23.3 vor, dass die Förderschulen Hören und Kommunikation die Deutsche Gebärdensprache als eigenständiges weiteres Fach anbieten.
An keiner der Förderschulen für Hören und Kommunikation in Nordrhein-Westfalen wurde diese Verordnung seit nunmehr 17 Jahren umgesetzt. Überdies fehlt die deutsche Gebärdensprache als ein Unterrichtsfach zumindest ab der Schuleingangsphase. Somit wird die sprachliche Deprivation dieser Kinder nur weiter gefördert.
Die aktuelle Förderung konzentriert sich in erster Linie auf die Förderung des Hörens. Vorrangig wird mit hörbehinderten Kindern in Lautsprache kommuniziert – ohne Gebärdensprache anzubieten. Als Folge erhalten viele Kinder mit Hörbehinderung im Laufe ihrer Schulzeit eine weitere Diagnose: Lernbehinderung. Lernbehinderung kann vermieden werden, wenn diese hörbehinderten Kinder von Anfang an die Förderung in DGS erhalten. Trotz optimaler Hörhilfen (wie digitale Hörgeräte oder Cochlea Implantat) stellt die deutsche Sprache für hörbehinderte Kinder eine Barriere der Sprache dar, wobei das Erlernen der Gebärdensprache keine Sprachbarriere für hörbehinderte Kinder darstellt.
Dieser Zustand ist untragbar und wir setzen uns dafür ein, dass dieser Missstand beendet wird.
Wir stellen fest:
- Lehrerausbildung: Es gibt keine Ausbildung in NRW, die für angehende Lehrkräfte die Gebärdensprachkompetenz auf dem Sprachniveau von mindestens C1 anbietet. Dieses Sprachniveau ist für eine gute Kommunikation und einen guten Unterricht erforderlich. Hinweis: Wer Englisch an der Regelschule unterrichtet, muss Englisch auf dem Sprachniveau C1[1] nachweisen.
- Fortbildung/ Weiterbildung für die bestehenden Lehrkräfte an den Förderschulen Hören und Kommunikation in NRW: zu wenig Budget für Gebärdensprachkurse, um ihre Gebärdensprachkompetenz der Lehrkräfte zu fördern.
- Bis jetzt wurde defizitorientierte statt ressourcenorientierte Förderung für hörbehinderte Kinder in der Frühförderung und schulischer Bildung betrieben.
- Trotz rechtlicher Grundlagen wurde die Gebärdensprache in der Bildung nicht umgesetzt:
- Verordnung über die sonderpädagogische Förderung, den Hausunterricht und die Schule für Kranke (Ausbildungsverordnung sonderpädagogische Förderung – AO-SF vom 29. April 2005 (NRW)) Artikel 23 (2) und (3)
- UN-Behindertenrechtskonvention Artikel 24 Bildung 3 b: „Die Vertragsstaaten erleichtern das Erlernen der Gebärdensprache und die Förderung der sprachlichen Identität der Gehörlosen“.
- Erstes allgemeines Gesetz zur Stärkung der Sozialen Inklusion in NRW
Artikel 2 §8 Barrierefreie Kommunikation, Gebärdensprache (4) „Die Deutsche Gebärdensprache ist als eigenständige Sprache anerkannt“. - Die UNESCO hat die Deutsche Gebärdensprache als nationales immaterielles Kulturerbe anerkannt.
Hinweis:
Am 07.10.2021 verabschiedete die Kultusministerkonferenz (KMK) ihre Empfehlungen zur Einführung eines Unterrichtsfaches Deutsche Gebärdensprache (DGS) im Wahl(pflicht)bereich. Diese beinhalten, dass DGS zukünftig an Schulen der Sekundarstufe I als wählbare Fremdsprache angeboten werden soll. Wir betrachten die Verabschiedung der Empfehlungen der KMK als einen Schritt in die richtige Richtung. Gleichzeitig sehen wir mit Besorgnis, dass die „nichtbehinderten“ Schüler*innen durch die Umsetzung der KMK-Empfehlungen zuerst die Möglichkeit erhalten, mit der DGS eine Fremdsprache aus dem eigenen Land in den Regelschulen in NRW zu lernen. Durch die Umsetzung der KMK-Empfehlung wären keine DGS-Dozent*innen mehr vorhanden, sodass die hörbehinderten Schüler*innen weiterhin keine DGS-Förderungen in der Förderschule erhalten können. Außerdem stellt sich die Frage, wie lange der Stillstand noch andauern soll.
Unsere Kernforderung zur Umsetzung:
- Neuer Bildungsauftrag des Landes NRW für hörbehinderten Kinder:
Bimodal-bilinguale Förderung von Anfang an (Frühforderung, Kindergarten, alle Schulformen (Primar-, Sekundarstufen I + II) Es handelt sich um Zweisprachigkeit in zwei verschiedenen Modalitäten (Deutsch und Deutsche Gebärdensprache).
- Gebärdensprachkompetenz der Lehrkräfte fördern und sichern:
- Reform der Studienrichtung Lehramt Förderschwerpunkt Hören und Kommunikation an der Universität zu Köln:
Alle Student*innen, die das Lehramt Förderschwerpunkt Hören und Kommunikation studieren, müssen das Sprachniveau der deutschen Gebärdensprache mindestens in C1 erwerben und das Unterrichtsfach DGS statt Pflichtfach Deutsch oder Mathematik studieren. - Fortbildung/Weiterbildung: DGS-Dozent*innen (nicht verwechseln mit DGS- Gebärdensprachdolmetscher*in) sollen an den Förderschulen Hören und Kommunikation fest angestellt werden, um die Lehrkräfte, die an den Förderschulen HK tätig sind, mehrmals in der Woche in DGS auszubilden.
- Reform der Studienrichtung Lehramt Förderschwerpunkt Hören und Kommunikation an der Universität zu Köln:
- Deutsche Gebärdensprache in der Bildung:
- DGS in der Stundentafel festlegen, insbesondere für Förderschulen Hören und Kommunikation in NRW
- Einführung des Unterrichtsfaches DGS (Primarstufe, Sekundarstufe I und II)
- Frühförderung mit DGS-Förderung
Weitere Forderungen bzw. Information auf unsere Homepage, siehe Link: Landeselternverband – Unsere Forderungen
Unser Appell an das Land NRW und die Parteien:
Umsetzung unserer Forderungen jetzt!
Der Vorstand des Landeselternverbandes gehörloser und schwerhöriger Kinder und Jugendlicher NRW e.V.
Ansprechpartnerin:
Kira Knühmann-Stengel 0208 / 78 222 9411
transignum.kira@gmail.com
Wer ist der Landeselternverband?
Der Landeselternverband gehörloser und schwerhöriger Kinder und Jugendlicher NRW e.V. ist ein inklusiver Verband, da die Mitgliedschaft aus hörenden und hörbehinderten Eltern besteht, die gehörlose und/oder schwerhörige Kinder haben. Auch der Vorstand setzt sich selbst auch aus gehörlosen und hörenden Eltern zusammen, wodurch inklusiv agiert wird. Der Verband vertritt diese Eltern in den Bereichen Beratung, Frühförderung, frühkindliche und schulische Bildung und Ausbildung.
[1] „Kann ein breites Spektrum anspruchsvoller, längerer Texte verstehen und auch implizite Bedeutungen erfassen. Kann sich spontan und fließend ausdrücken, ohne öfter deutlich erkennbar nach Worten suchen zu müssen. Kann die Sprache im gesellschaftlichen und beruflichen Leben oder in Ausbildung und Studium wirksam und flexibel gebrauchen. Kann sich klar, strukturiert und ausführlich zu komplexen Sachverhalten äußern und dabei verschiedene Mittel zur Textverknüpfung angemessen verwenden.“ Quelle: https://www.europaeischer-referenzrahmen.de/sprachniveau.php (Zugriff am 11.2.2022)